"Die Hühnerleiter": ID Pool # 19.1
Das Geschichtenerzählen beginnt mit der eigenen Geschichte (siehe auch das Eigene).
Mit dem Bauernhof meiner Großeltern verbindet mich eine reiche Sammlung an Erinnerungen – mein erster kreativer Akt war nicht gerade zimperlich:
Mein Opa war ein stiller und grantiger Mann. Schlechtgelaunt ist eigentlich kein Ausdruck dafür, es war eine Art Nachkriegsdepression, aus der er sich nie wirklich erholte, auch nicht, wenn er herzlich lachte.
Das wußte ich als Vierjähriger nicht, aber ich wußte, dass er mich schlecht behandelte. Er schimpfte über mich, nicht mit mir. Er hielt, auch wenn er mir etwas erklärte, einen großen Abstand ein. Schließlich blieb mir nichts anderes übrig, ich deutete das als Liebesentzug. Jedenfalls ging ich ihm mit laufender Zeit immer häufiger auf den Zeiger, schließlich begann ich ja selbst zu denken und was noch schlimmer war, ich begann Dinge auszuprobieren und – für ihn am schlimmsten - sie kaputt zu machen.
Es gab Wochen in denen der Glaser jeden zweiten Tag bei uns war.
Da ich im Hof die Auswahl zwischen vielen Fensterscheiben hatte, ging jede mindestens einmal zu Bruch.
Das Glück welches diese Scherben brachten, hielt für viele Jahre.
Opa sah das anders und strafte mich mit seinem mürrischen Gesichtsausdruck, der in mich die Angst säte, die Menschen könnten alle so sein. Das Böse hatte in mein Weltbild Einzug gehalten, es war Grund genug, dagegen den Kampf aufzunehmen. Das Mürrische und Grantige mußte aus der Welt geschafft werden.
Jeden Tag mußte mein Opa die Leiter zu den Hühnern hinauf und ich beobachtete ihn dabei. Es fiel mir nicht schwer, den schnellgefassten Plan in die Tat umzusetzen, schließlich konnte es nicht so weiter gehen, ich wollte, dass man sich an mir erfreute.
Die Leiter wurde nach einem präzisen V-Anschnitt der dritten Sprosse mit Dreck und Hühnerkacke verschmiert, so dass die Sollbruchstelle über Nacht getrocknet, dem Opferopa keine Chance lassen sollte.
An den Schrei kann ich mich noch gut erinnern. Ich hatte oben auf dem Getreidespeicher Stellung bezogen, um meinen Triumph aus einem Logenplatz zu genießen. Leider lenkten mich die jungen Katzen von der langen Warterei ab und ich konnte nicht sehen, wie es passierte.
Nach dem Schrei kam dann der Schock, ein doppelter: Opa begann mit verstauchtem Fuß - zweifellos noch am Leben - zu fluchen und ich hatte mich plötzlich vor meiner so raffiniert eingesetzten Kreativität erschrocken, die beinahe meinem armen Opa übel zugesetzt hätte.
Das Attentat blieb ohne ernsthafte Folgeschäden auf beiden Seiten, aber wir hatten die Fronten geklärt. Er hatte seinen Frieden mit mir gemacht, aber nicht mit den vielen anderen, die er im gefrorenen Dreck der Ostfront hatte sterben sehen. "Michel aus Lönneberga" ist eine Sache, aber Chris aus Unterkandel, wer ist das Original eines Lausbuben fragt man sich da? Streiche aus der Kindheit haben immer Erzählpotenzial. Auch Streiche zu erzählen? Her damit!
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